von Dr. Thomas Liesemann
Wenn im Amphitheater der Stadt Hanau die Brüder-Grimm-Festspiele stattfinden, widmet sich auch die Hohe Landesschule dem bei Schülerinnen und Schülern immer wieder beliebten Thema der Märchen. Es überrascht nicht, dass dieses Erzählgenre auch bei den unterrichtenden Kolleginnen und Kollegen, die unsere Klassen 5 an die erzählende Literatur heranführen wollen, besondere Wertschätzung genießt. Beim Thema Märchen haben Lehrkräfte in der Regel leichtes Spiel, steht doch der Gegenstand bei den ihnen anvertrauten Lernenden seit Langem hoch im Ansehen. Mit dem Hören von Märchen verbinden die meisten unserer Schülerinnen und Schüler vertraute Stunden des Zusammenseins mit Eltern, Großeltern oder anderen erwachsenen Personen, die ihnen ihre Zeit widmen, indem sie vorlesen oder gar auf der Grundlage einer guten Erinnerung frei erzählen.
Und so nimmt es nicht wunder, dass auch die diesjährige Märchenlesung, die im gut besetzten Katharina-Belgia-Forum der Schule stattfand, für viel Freude bei den jungen Schülerinnen und Schülern sorgen konnte. Genauer gesagt, waren es zwei Lesungen, zu denen jeweils vier der parallelen Klassen 5 eingeladen waren, denn auf einen Schwung hätte die Örtlichkeit des Forums so viele interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer gar nicht fassen können. Zu Gast war – wie schon in den vergangenen Jahren – die Jugendbuch-Autorin und Redakteurin beim Hessischen Rundfunk, Katalin von Draskoczy.
Auch für Frau Draskoczy stellt diese Lese- und Erzählstunde immer wieder einen besonderen Moment in ihrem Berufsalltag dar, wie sie später zu verstehen gab. Kinder brauchen Märchen, schrieb einst der namhafte Kinderpsychologe Bruno Bettelheim. Was im Titel seines Buches ungesagt mitschwingt, ist, dass auch Erwachsene glückliche Momente erfahren, da sie für eine begrenzte Zeit dem Alltagsgeschehen entrücken, um in eine erzählte Welt abzutauchen, an der sie selbst einst lebendigen Anteil hatten und die ihnen nun, da sie wissen, wie viel nüchternen Verstand ihnen die Welt meist abverlangt, wie ein verloren gegangenes Paradies erscheint. Warum nicht ein wenig von diesen paradiesischen Momenten mit den Kindern teilen? Vielleicht hilft dies ja, die noch erlebnisoffenen Facetten der eigenen Weltwahrnehmung wieder ein bisschen vom prosaischen Staub des Alltags zu befreien, um sie anschließend umso genauer erkennen zu können?!
In der Rückschau auf diesen Vormittag ist man angenehm beeindruckt angesichts des Interesses, das die Fünftklässler bei der Lesung wie auch dem Gespräch gezeigt haben. So sehr die Märchen der Brüder Grimm als typischer Bestandteil der deutschen Romantik gelten, jener Epoche, die in der Erforschung und im Aufschreiben von erzählerischem Volksgut einen gemeinsamen Bezugspunkt für die im Grunde noch gar nicht bestehende Nation erkannte – der Gemeinschaft stiftende Mythos sollte tatsächlich dem Glauben an die Einheit Deutschlands, die erst Jahre später politische Wirklichkeit wurde, Vorschub leisten – so sehr macht das Studium mündlich überlieferter Erzähltraditionen deutlich, dass in dem sich allgemeiner Anerkennung erfreuenden Beitrag zur Weltliteratur ein gesamteuropäisches Projekt zu erkennen ist. Viele der Märchenerzählungen, die das emsige Brüderpaar ihren des Schreibens oft kaum mächtigen Beiträgern ablauschten, finden sich in ganz ähnlicher Form in alten Erzählungen aus Frankreich. Man vermutet, dass sie bei der Flucht der Hugenotten vor Repressalien aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses den Weg in die deutsche Sprachgemeinschaft gefunden haben. Wer kann ausschließen, ob nicht während der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs noch entlegeneres Erzählgut seinen Weg in die deutsche Sprache gefunden hat?
In der Faszination für die Grimm’schen Volks- und Hausmärchen tauchen wir also nicht nur ein in Motive von tiefenpsychologischer Bedeutsamkeit (neben Bruno Bettelheim wären hier Verena Kast und Carl Gustav Jung zu erwähnen), wir nehmen auch Teil an einem völkerverbindenden Projekt, das weit über die Grenzen des Nationalen einer tiefen Verbundenheit menschlichen Hoffens und Sehnens eine symbolisch vermittelte Gestalt gibt. Ein Aspekt, der gerade in heutiger Zeit mit ihrem Wiedererwachen von so vielen Nationalismen von Interesse ist. Eben weil die teilnehmenden Fünftklässler mit solcher Aufmerksamkeit der Märchenerzählerin gefolgt sind, legt dies den Gedanken nahe, dass es Tiefgründigeres gibt, das Menschen miteinander zu verbinden vermag über die Trends populistischer Verheißungen hinaus. In Abwandlung von Bruno Bettelheims Titel möchte man deshalb sagen: „Menschenkinder brauchen Märchen“.